Schule/Bildung 1
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Die PISA-Revolution geht
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immer über PISA wissen wollten und uns die Presse nicht zu sagen wagte... :
... wo Deutschland zur Spitzengruppe gehört ! |
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Achtung! Intox!
Desinformationen über
Lehrer/innen und den Lehrberuf. Das ABC der Vorurteile und das Einmaleins der
Aufklärung darüber
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>> Amok, Schule, Gesellschaft… Aus leider aktuellem Anlass. |
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Wolfgang GeigerPISA oder das Ende der (nicht nur
linken) Bildungsutopie
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© 2002/2004 by the author and Kommune Erschienen in: Kommune 5/2002, S.39-42.
Leicht
überarbeitete Fassung gegenüber der damaligen Veröffentlichung. |
1.
Bildung und gesellschaftlicher Bedarf Der „umfassendste und weitreichendste Leistungsvergleich
der Bildungsgeschichte“ (so die Selbstdarstellung) auf internationaler Ebene hat
in den letzten Monaten für viel Aufregung in Deutschland gesorgt. Die von der
OECD über ihren Geltungsbereich hinaus organisierte PISA-Studie, in
Deutschland ergänzt durch einen analogen internen Vergleich zwischen den
Bundesländern (dessen Ergebnisse zum
Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch nicht bekannt waren),
untersuchte Lesefähigkeit, mathematische und naturwissenschaftliche
Grundbildung von 15-Jährigen durch anwendungsorientierte, also
lehrplanunabhängige Prüfungsaufgaben, deren Schwerpunkt auf logischem Denken,
selbständigem Reflektieren und vor allem auf der Lesekompetenz (literacy) lagen – letztere war der globale
Schwerpunkt, auch bei den mathematischen Aufgaben, wo es weniger um das
Rechnen als solchem als um das Verständnis der Aufgabenstellung ging. Und
gerade beim Schwerpunkt Leseverständnis
haperte es am meisten bei den deutschen SchülerInnen, übrigens mit einem
signifikanten geschlechtsspezifischen Gefälle zugunsten der Mädchen. Die meisten Kommentatoren der
schrittweise veröffentlichten Ergebnisse fanden sich in dem bestätigt, was
sie angeblich immer schon wussten, die anderen zweifelten die methodische
Grundlage und Vergleichsbasis der Studie an, Politiker erkannten dagegen in
der PISA-Studie die Bestätigung des von ihnen seit jeher vertretenen
Bildungskonzepts: Gesamtschule für die SPD und „gegliedertes Schulsystem“ für
die CDU. Dabei haben sich beide Konzepte schon längst von selbst ad absurdum
geführt, gemessen an ihren eigenen Ansprüchen, und die PISA-Studie bestätigt
dies eindrucksvoll: Weder klappt
das „soziale Lernen“ und die Förderung der Schwächeren an den Gesamtschulen
so wie es sollte, da die Gesamtschulen bei PISA in den oberen beiden von fünf
Leistungskategorien (d.h. in etwa Note 2 und 1) noch schlechter abschnitten
als die Realschulen (!) (und beide zusammen erheblich schlechter als die
Gymnasien), noch schnitten deswegen
die Gymnasien besonders gut ab, ganz im Gegenteil: im Spitzenbereich sind die
deutschen Gymnasiasten im Durchschnitt trotz allem schlechter als die
vergleichbaren EinheitsschülerInnen anderer Länder, allen voran die
skandinavischen, wo jeweils ein gesamter Jahrgang dieselbe Schule besucht,
zumindest bis Ende der Sekundarstufe 1, und nicht wie bei uns bereits nach
Leistung vorsortiert ist. Doch unverdrossen halten die
einen (SPD und GEW) das Konzept der Gesamtschule hoch, seit jüngstem in der
GEW durch die Formel „eine Schule für alle“ ersetzt, wo die Schlechteren von
den Besseren im Verbund des „sozialen Lernens“ profitieren sollen, was de facto
jedoch so etwas wie eine Solidarität der Besseren mit den Schlechteren
bedeutet, während die anderen (CDU und ihre bildungspolitischen Truppen wie
der Philologenverband im Beamtenbund) auf eine Eliteformierung durch das
Gymnasium setzen, wobei sie wenig interessiert, was mit denen passiert, die
dabei herausfallen und warum sie herausfallen. Dass das Niveau der
Gesamtschulen tatsächlich weit unter dem der Gymnasien liegt, haben schon
seit längerem intensive Untersuchungen der Max-Planck-Gesellschaft für Bildungsforschung
gezeigt (siehe u.a. FAZ 27. & 28.9.1999): an Gesamtschulen kommt man zwar
leichter zum Abitur, jedoch weil die Anforderungen dafür heruntergeschraubt
sind. Der flächendeckende Vergleich zwischen Gesamtschulen und Gymnasien in
NRW ergab einen durchschnittlichen Rückstand des Wissens und der Kenntnisse
von Gesamtschülern um ein ganzes Jahr (!) gegenüber gleichaltrigen
Gymnasiasten. Die
klassische Eliteselektion als Gegenmodell funktioniert in reinster Form am
ehesten noch in Bayern, das entsprechend auch immer wieder vorgezeigt wird,
und bringt zwar isoliert betrachtet gute Leistungsergebnisse, aber nicht
genug Schüler mit solch guten Leistungen: So hat Bayern eine
Akademikerunterproduktion und muss auf Zuwanderung setzen – wenn’s geht durch
eine deutsche Binnenwanderung, versteht sich.[1]
Musterstadl Bayern: die scharfe Auslese der Besten bringt zu wenige gute
Absolventen. Schon
an den internen Zielvorgaben und am deutschen gesellschaftlichen Bedarf gemessen
versagen also beide Systeme, wenn
auch aus verschiedenen Gründen, um so krasser jedoch im internationalen
Maßstab: die Bestplatzierten beim PISA-Vergleich setzen nicht nur auf immer
mehr höhere Bildung: Schweden 90% eines Jahrgangs Abitur, Finnland bis zu 70%
Akademiker, sie schaffen es auch. Sie haben im Gegensatz zu den Deutschen
frühzeitig erkannt, dass die zweite technologische Revolution nur noch einen
minimalen Sektor an alter „Handarbeit“ übrig lassen wird und zukünftig, meist
heute schon, auch klassische Arbeiterberufe durch den Einsatz modernster
computergesteuerter Technik ein hohes Maß an Bildung als Voraussetzung für
die eigentliche Ausbildung erfordern. Dies zieht bei uns auf der untersten
Ebene des „gegliederten Bildungssystems“ der Hauptschule (und teilweise auch
der Realschule) regelrecht den Boden unter den Füßen weg, zumal sich ja dort
die Schlechtesten versammeln und keineswegs mehr nur einfach die „eher
praktisch Begabten“. Das
erschreckendste, aber tatsächlich nicht überraschendste Ergebnis der
PISA-.Studie ist denn auch, dass sich ganz unten auf der Leistungsskala ca.
20% eines Jahrgangs sammeln, die als „funktionale Analphabeten“ (so der
offizielle Terminus) bezeichnet werden müssen. Doch auch am anderen Ende der
Skala kann die deutsche Schule die ihr gestellten Anforderungen nicht
erfüllen: Weder eine numerisch unzureichende Elite noch eine zu schlecht
gebildete Masse an Abiturienten wird gebraucht, sondern möglichst viele Schulabgänger mit möglichst guter Bildung. Der internationale Vergleich zeigt, dass
das deutsche Bildungssystem auf allen
seinen Stufen und in allen seinen
Formen relativ schlechte Ergebnisse produziert, weil die Leistungen der
getesteten deutschen 15-jährigen auf fast allen Leistungsniveaus von 5
(bestes) bis 1 (schlechtestes Niveau) unterdurchschnittlich sind. Nicht nur
die Hauptschüler sind schlechter als sie sein sollten, sondern auch die
Gymnasiasten; nicht nur die Schulformen, die die Wegselektionierten von oben
her aufnehmen müssen (darunter auch die Gesamtschule), sondern auch die
Schule, die von der Selektion profitiert, also das Gymnasium, schneidet zu
schlecht ab. Dies wird auch durch die Hamburger Langzeitstudie LAU
eindrucksvoll bestätigt, die sowohl bei Gesamtschülern des gymnasialen Zweigs
wie bei Gymnasiasten einen faktischen Lernstillstand in den
Grundlagenfächern, vor allem aber in Deutsch, zwischen Klasse 7 und 9
bescheinigt. Diese Langzeitstudie ist um so beeindruckender und
aussagekräftiger als PISA, als sie nicht mit einer Auswahl von Testschülern
operiert, sondern jeweils die ganze Jahrgangsbreite der Schülerpopulation
Hamburgs testet. Freilich
haben die Vertreter des jeweiligen Schulsystems immer eine jeweils passende
Ausrede für das schlechte Abschneiden ihrer Schulform parat: Die einen argumentieren
damit, dass sie an der Gesamtschule die gescheiterten Schüler des Gymnasiums
auffangen müssen, die anderen beschweren sich spiegelverkehrt aber in
derselben Logik – wenn auch nicht so
offen –, dass zu viele schlechte Schüler aufs Gymnasium wollen oder sollen
und dort eben das „Niveau verderben“. Nun
besagen Zielvorgaben wie 90% Abitur in Schweden per se auch noch nichts über
das Niveau dieser Schulabgänger, doch PISA attestiert den Skandinaviern
zumindest ein hohes Niveau am Ende der Sekundarstufe 1, und das eben nicht
nur einer gymnasialen Elite, sondern einer ganzen Jahrgangsbreite. Auch in
Frankreich gibt es seit über 15 Jahren die Diskussion um die Zielvorgabe 80%
Abitur. Je mehr man sich diesem Ziel nähert, desto mehr stellt man jedoch fest,
dass dies um den Preis eines sinkenden Abi-Niveaus erkauft wird, und ein
bekannter Spruch an den Schulen lautet: „Ohne das Abi bist du nichts, mit dem
Abi hast du nichts.“[2] An der Hochschule müssen
anfangs erst einmal die Defizite ausgeglichen werden und eine Quote von
Abbrechern oder Durchgefallenen von 50% im ersten Jahr ist keine Seltenheit.
Dennoch schnitten in der PISA-Studie die fünfzehnjährigen französischen
Schüler besser als die deutschen ab. 2. Bildung und gesellschaftliche
Utopie Es geht hierbei nicht nur um ein schlechtes Abschneiden
Deutschlands bei einer internationalen Klassenarbeit, sondern um eine
grundlegende gesellschaftliche Problematik. Erinnern wir uns – die
Bildungsreform der 70er Jahre hatte im Wesentlichen drei Stoßrichtungen: 1.
Eine soziale, wonach breitere Schichten zu höheren Bildungsabschlüssen
gelangen sollten („Arbeiterkinder an die Uni!“); hierbei wurde die
Bildungsoffensive als Antwort auf einen steigenden gesellschaftlichen Bedarf
mit der politischen Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit („gleiche
Chancen für alle“) verbunden. 2.
Eine pädagogische, nämlich die Befreiung der gymnasialen Oberstufe aus dem
Korsett des Klassenverbandes und des standardisierten Unterrichts, mit dem
Ziel von mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Schüler, Kurswahl
nach „Interessen und Neigungen“. 3. Eine entsprechende Reform der
Unterrichtsinhalte mit dem Ziel der Erziehung zu selbständiger Erkenntnis und
eigenverantwortlichem Handeln. Die Linke innerhalb und
außerhalb der SPD, aber in der GEW vereint, führte beim letztgenannten Punkt
die Zielsetzung emanzipatorischer Bildungsinhalte weiter in Richtung auf die
Schaffung eines „kritischen Bewusstseins“. Wenn man diese Vorstellung von
ihrem utopischen Gehalt befreit, nämlich der damit verbundenen Hoffnung auf
eine gesellschaftskritische und damit à la longue gesellschaftsverändernde
Komponente, dann bleibt davon die bildungspolitisch-pädagogische Forderung
nach einer Erziehung zur geistigen Selbständigkeit übrig, die auch einmal
Grundlage der bürgerlich-liberalen Bildungsutopie vom freien,
selbstbestimmten Individuum war. Hierin konvergierten erstaunlicherweise also
zwei ansonsten antagonistische gesellschaftspolitische Positionen, denn,
obwohl wir uns damals klarmachten, dass „das Sein das Bewusstsein bestimmt“,
so wollten wir doch gerade diesen Spieß umdrehen. Die bürgerlich-aufgeklärte
Bildungsutopie hatte schon im 18. Jahrhundert das Projekt gesellschaftlicher
Veränderung mit der „Erziehung des Menschengeschlechts“ verknüpft; im 19.
Jahrhundert substituierte – um nicht zu sagen: sublimierte – man in
Deutschland die nicht stattfindende gesellschaftlich-politische Revolution
durch das die Aufklärung fortsetzende Projekt von der richtigen Erziehung:
Veränderung der Gesellschaft durch allmähliche Veränderung der Individuen.
Nicht umsonst sind in dem politisch immobilen Raum Deutschland – Schweiz –
Österreich die meisten pädagogischen Reformprojekte entstanden, oppositionell
und minoritär angesichts eines verkrusteten autoritären Systems, aber nicht
ohne Wirkung, vor allem nach 1918. Dabei gingen noch lange Zeit die neuen
Vorstellungen von einer subversiven, emanzipatorischen Erziehung der
„Untertanen“ mit den alten aufklärerischen Ideen einer Erziehung der
Herrschenden zu vernünftigem Handeln parallel. Dies klingt gesellschaftlich
verschoben selbst noch in Walter Benjamins vom linken mainstream abweichender
Auffassung an, der Adressat des linken Intellektuellen sei nicht das Volk
oder die Arbeiterklasse, sondern seinesgleichen, und diesbezüglich gab es ja
zwischen 1918 und 1933 wahrlich Handlungsbedarf. Nach der Kapitulation
Nazi-Deutschlands 1945 setzten praktisch alle, die sich jetzt in den freien
Medien zu Wort meldeten, auf eine neue Erziehung der Deutschen, am
kuriosesten verkörpert in der Forderung des alten Historikers Friedrich
Meinecke nach „Goethe-Gesellschaften“, in denen sich die Deutschen am
Feierabend und an Feiertagen zur Lektüre zusammenfinden sollten. Dabei hatten
Meinecke und seine Historikerzunft – und das ist eben charakteristisch für
die damalige Situation – ja vor 1933 an den Universitäten gerade alles dafür
getan, der Weimarer Republik geistig das Wasser abzugraben, viele von ihnen
haben wesentliche Teile die NS-Ideologie mitgetragen, vor allem ihren
revanchistisch-nationalistischen Aspekt. So konnte ein pädagogisch-emanzipatorisches
Projekt bei personeller Kontinuität des Lehrkörpers nach 1945 an Schulen und
Hochschulen nicht verwirklicht werden. Wie bekannt, hatte ja auch die Revolte
der 60er Jahre eine ihrer Wurzeln in der aufgeschobenen Auseinandersetzung
mit der NS-Vergangenheit und war die Überwindung des halb aus der NS-Zeit
übernommenen, halb neu geschaffenen autoritären Geistes der Adenauer-Ära eine
nachgeholte Befreiung aus nicht nur selbst verschuldeter, sondern auch selbst
gewollter Unmündigkeit – selbst gewollt aus Furcht vor Freiheit in Selbstverantwortung. Das
typisch deutsche Konzept der „Bildung“ enthielt stets einen emanzipatorischen
Aspekt, anders als „Erziehung“, die autoritär sein konnte, denn „Bildung“
implizierte die Unabhängigkeit der individuellen Urteilskraft, selbst wenn
das Bildungsbürgertum sich natürlich auch seinen Wertekanon schuf. Es scheint
eine Art Relation zwischen dem Grad der Unabhängigkeit des Geistes und der
politischen Bedeutungslosigkeit des Bildungsbürgertums gegeben zu haben,
während nach 1945, als das Bildungsbürgertum endlich auch politisch das Sagen
hatte, es sich selbstgewollt dieser geistigen Freiheit aus Angst vor ihren
Konsequenzen versagte. Obwohl sich nach 1968 viel in Deutschland änderte –
was aber damals von den 68ern weit weniger erkannt wurde als von ihren
Gegnern – führte der Weg der 68er Revolte und ihrer Nachhutgefechte in eine
neue Utopie von der Veränderung der Gesellschaft durch Erziehung und Schule.
Vielleicht weniger in dem Sinne einer ideologischen Indoktrination durch
umgekrempelte Inhalte, wie damals von konservativen bis hin zu
sozialdemokratischen Kreisen befürchtet (siehe Radikalenerlass), als vielmehr
in der rousseauistischen Vorstellung, auch in einer als repressiv
verstandenen Gesellschaft sei eine Befreiung des Individuums dadurch möglich,
dass man ihm schlichtweg Freiheit zur eigenen Entwicklung gebe, learning by
doing sozusagen, von der antiautoritären Kindertagesstätte bis zum
selbstbestimmten Abitur. Der größte Teil der heute unterrichtenden Lehrer
entstammt jener 68er und post-68er Generation, auch wenn es einerseits stets
ein Mythos war zu glauben, eine ganze Generation habe damals kritisch zur
Gesellschaft gestanden, und auch wenn andererseits nicht wenige gealterte
Lehrer von heute ihre damalige Protesthaltung gerne vergessen machen. Doch auch die moderne Variante
der bildungsbürgerlichen Utopie, die schulische Auslese der Besten zum Besten
der ganzen Gesellschaft, bröckelt auf vielen Ebenen, nicht zuletzt dadurch,
weil sich das Bildungsbürgertum und seine Werte allmählich in der
Gesellschaft auflösen. Kinder, denen es zuhause an nichts fehlt – so meine
These – scheitern aus mangelnder Motivation auf der Schule oder schleppen
sich gerade so durch, weil sie von klein auf offenbar nie gelernt haben,
warum man sich für etwas anstrengen muss. Dies wäre früher in einem
soziokulturell klarer eingegrenzten Bildungsbürgertum undenkbar gewesen: das
Erziehungsideal bestand geradezu darin klarzumachen, dass einem nichts in den
Schoß fällt und dass all der Wohlstand, in dem die Kinder aufwuchsen,
erarbeitet und erkämpft war. Die bildungsbürgerliche Erziehung arbeitete
somit in gewissem Sinne der unmittelbaren Wahrnehmung der Kinder entgegen.
Das bürgerliche Ideal des „Leistung muss sich bezahlt machen“ wird heute von
konservativen bis liberalen Kreisen um so mehr als politisches Ideal
hochgehalten, wie es als erzieherisches zu verschwinden droht. 3.
“We don’t need no education, we don’t need no thought control”? Die inzwischen schon etwas älteren Herren von Pink Floyd
brachten in ihrem berühmtesten Song die Utopie ihrer eigenen Jugend damals der
Generation ihrer eigenen Kinder nahe, wobei zwischen beiden Teilen des Verses
wohl eine kausale Verknüpfung besteht. Selten wurde die linke Bildungsutopie
in ihrer radikalsten Form so prägnant zum Ausdruck gebracht. Doch als dies
musikalisch um die Welt ging, begann zumindest bei uns ein Prozess, der auf
eine tendenzielle Verwirklichung des Botschaft des ersten Teils abzielte,
jedoch ohne die des zweiten. Längst gibt es – so meine These – einen Rückgang
von Erziehung, aber nicht aus emanzipatorischen Gründen, sondern weil vielen
Eltern in erster Linie daran liegt, sich eigene Freiräume dadurch zu sichern,
dass ihre Kinder dem allgegenwärtigen Medienkonsum überlassen werden. Im
pädagogischen Bereich lassen sich alleine daher schon immer auffälligere Aufmerksamkeits-
und Konzentrationsdefizite erklären. Bildungspolitisch bedeutet dieses „no
education“ nicht eine Befreiung von „thought control“, sondern das genaue
Gegenteil. Es geht somit hinsichtlich der
Konsequenzen aus der PISA-Studie auch gar nicht um eine schematische
Gegenüberstellung Leistung versus Inhalte. Wer heute geistes- und sozialwissenschaftliche
Fächer unterrichtet, ist mehr oder weniger mit einem Scherbenhaufen der nicht
nur linken Bildungsutopie konfrontiert. Mit der laut PISA mangelnden Lesekompetenz
korreliert nämlich mangelnde Selbständigkeit, Kritik- und Urteilsfähigkeit
von vielen – zu vielen! – Schülern gegenüber vorgegebenen Inhalten. Während
wir als Schüler damals pauschal alles kritisierten, was uns vorgelegt wurde,
herrscht in der heutigen Schülergeneration mehrheitlich die gegenteilige
Haltung vor. Immer wieder müssen wir erfahren, wie nahezu jedweder
vorgegebene Text naiv als Autorität akzeptiert wird, stehen wir vor dem
Problem, Klassenarbeiten – und gerade noch Oberstufenklausuren bis hin zum
Abitur – bewerten zu müssen, in denen eindeutig ideologisch geprägte Passagen
aus vorgegebenen Quellen (z.B. nationalistischen oder nationalsozialistischen
Inhalts in Geschichte) schon sprachlich so affirmativ übernommen wurden, dass
man am Schülertext selbst nicht entscheiden könnte, ob die Sicht des zu
analysierenden Autors vom Schüler schlichtweg übernommen wurde oder nicht.
Und hier verknüpfen sich eben alle Einzelprobleme zu einem gordischen Knoten:
mangelnde Lesekompetenz bis hin zu simplen Textverständnisproblemen,
mangelnde Sprachbeherrschung und Ausdrucksfähigkeit, mangelnde kritische
Distanz zum Gelesenen, mangelnde Urteilsfähigkeit und nicht zuletzt
mangelndes Selbstbewusstein. Und auch hier liefert die PISA-Studie
entsprechende Ergebnisse: Auch und gerade im intellektuellen
Anforderungsbereich des selbständigen Reflektierens schneiden die deutschen
Schüler schlecht ab. Fazit: Es ist daher sinnlos, auf
emanzipatorische Bildungskonzepte zu setzen, wenn elementare Verständnisgrundlagen
fehlen: Ohne Kenntnis keine Erkenntnis, ohne Wissen kein Gewissen. Die bisher vorgebrachten
Lösungsvorschläge für ein in dieser Tiefe kaum begriffenes Problem sind
leider so einseitig wie die ihnen zugrundeliegenden monokausalen Erklärungen.
Auch aus dem internationalen Vergleich lässt sich nicht nachweisen, dass es
jeweils nur am mangelnden Geld, an schlechten institutionellen
Rahmenbedingungen (Einschulungsalter, Halbtagsschule), am fehlenden
Engagement der Lehrer oder an anderen Einzelfaktoren (Schulform,
Klassenstärke...) liegt. Auch die Auswirkungen der Konsumgesellschaft sind
logischerweise kein rein deutsches Phänomen, doch schlägt dies freilich um so
mehr auf eine Schülerpopulation durch, die dem Medienkonsum bereits ab dem
Frühnachmittag ausgeliefert wird. Der hierzulande jetzt neu pädagogisch und
sozial begründete Ruf nach der Ganztagsschule, ebenso wie nach einer früheren
Einschulung und pädagogischen Aufwertung der Vorschulphase, ist jedoch nicht
nur eine bildungs- sondern auch eine finanzpolitische Frage, denn für diese
größere erzieherische Verantwortung des Staates müssten enorme finanzielle
Mittel zur Verfügung gestellt werden, alleine schon infrastrukturell
(Baumaßnahmen), ganz zu schweigen von den Personalkosten. Die Förderung
schwacher Schüler, wie sie das Gesamtschulsystem eigentlich vorsieht, müsste
überall so erfolgen, dass sie real auf feste Leistungsstandards hin gefördert
und nicht nur sozial integriert werden unter Inkaufnahme einer fatalen
Senkung der allgemeinen Leistungsanforderungen. Ein besonderes Problem ist
die mangelhafte Integration von Kindern ausländischer Herkunft, dies wurde
immerhin von allen erkannt, doch kann ein soziales Problem kaum pädagogisch
gelöst werden. Grundsätzlich hat Bildung in
Deutschland bislang keinen ausreichenden gesellschaftlichen Stellenwert und
damit verknüpft haftet der Vereinnahmung der Kinder durch den Staat
hierzulande aus historischen, jedoch inzwischen obsolet gewordenen Gründen
immer noch etwas Totalitäres an. Gleichzeitig wird von den Lehrern gefordert,
aus dem ihnen anvertrauten zeitlichen Betreuungsminimum pro Schüler müsse ein
Maximum an pädagogischem Resultat folgen. Auf diese scheinbare Quadratur des
Kreises verweisend reduzieren viele Lehrer ihr Engagement auch auf ein
Minimum diesseits des Möglichen und der wahrscheinlich einmalige Status der
Unabhängigkeit, den sie in Deutschland genießen, ermöglicht es ihnen und
verführt sie dazu. Von daher ist die in der PISA-Diskussion sehr oft
geäußerte Kritik an der mangelnden Kooperation unter Lehrern sicher treffend,
trifft aber eben auch nur einen von vielen Faktoren; verfehlt ist dagegen die
damit verbundene Schuldzuweisung, ebenso wie die entsprechende Abwehrreaktion
in der Lehrerschaft, es liege nicht an ihnen, folglich sei die Problembewältigung
Aufgabe der anderen (Staat, Eltern, Schüler). Aber wenn auch das Problem
nicht auf „schlechten Unterricht“ zurückführbar ist, so muss doch der
Unterricht auf diese Herausforderung reagieren. Hier zeigt sich freilich die
fatale Konsequenz der Überalterung der Lehrerschaft durch die
Einstellungspraxis der letzten zwanzig Jahre. Die Verjüngung des Lehrkörpers
hat gerade erst seit ein paar Jahren eingesetzt, von einer ganzen
Lehrergeneration, die der Pensionierung entgegensieht, ist schlichtweg nicht
zu erwarten, dass sie noch zuletzt den Unterricht revolutioniert. Das Schwierigste bleibt jedoch
der sozialpsychologische Faktor: Die Vorstellung der Fun-Gesellschaft, alles
pädagogisch Notwendige ließe sich spielerisch und in Spaß verkleidet dem
Schüler darbringen, ansonsten sei es nicht valabel – lange Zeit übrigens
durch eine entsprechende offizielle Pädagogik flankiert, freilich aus anderen
Motiven heraus –, hat erheblichen Anteil am Desaster. Versucht man gerade in
den von PISA festgestellten Defizitbereichen drastisch erst einmal auf die
Defizite aufmerksam zu machen, Voraussetzung für deren Behebung, stößt man
als Lehrer oft auf den erbitterten Widerstand nicht nur von Schüler- sondern
auch von Elternseite. Symptomatisch ist der Ausstieg Berlins und Hamburgs aus
der nationalen PISA-Studie aufgrund des Boykotts durch einen Teil der
Schüler, in Hamburg unterstützt von der Elternvinitiative „Protest gegen
Test“ und zumindest flankiert von Politikern und Lehrergewerkschaftern, die
sich zwar gegen den Vorwurf des Boykottaufrufs verwahren, diesen aber doch
wohl mit dem Kommentar, aus den vielen Tests folge keine Verbesserung der
Situation, argumentativ untermauert haben.[3]
Natürlich folgt aus den Tests noch nicht die Lösung – und ein Patentrezept
gibt es sowieso nicht –, doch ohne Tests wie PISA oder LAU in Hamburg würde
noch nicht einmal darüber diskutiert. [...] |
_______________________ [1] Als ich vor einigen Jahren an
einem Beruflichen Gymnasium in Sachsen unterrichtete, warb der sächsische
Kultusminister bei einem Besuch an unserer Schule mit den Chancen im
benachbarten Bundesland für akademisch Ausgebildete in
technisch-naturwissenschaftlichen Fächern, Bayern stelle geradezu ein
natürliches Auffangbecken für sächsische Akademiker dar, die es aufgrund der zu
schwachen Wirtschaftslage im Osten schwierig hätten; so warb er auch für die
entsprechenden Studienfächer. [2] Vgl. z.B. Le
Monde de l’Education, September 2001 und Le Monde, 8.3.2002 (Le Monde des livres). [3] Vgl. taz 4.4. und 5.4.2002. |
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Wolfgang GeigerBildung+/–Politik: Eine Dialektik der Freiheit
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© 2003 by the author and Kommune Erschienen in: Kommune 5/2003, S.38-41. |
Die inter nationalen
wie auch die inner nationalen Bildungsvergleiche
haben, abgesehen von den Diskrepanzen bei der Herstellung gleicher
„Laborbedingungen“, einen Vor- und einen Nachteil: Die Ergebnisse liefern
Daten zur Erkenntnis der Probleme, nicht aber gleichermaßen zu deren Lösung.
Deswegen interpretiert jeder, wie er will: Befürworter des typisch deutschen
„dreigliedrigen Schulsystems“ sehen sich ebenso bestätigt wie Verteidiger des
eher international gängigen Gesamtschulkonzepts. Letztere sind in einer Phase
des Zweifels an ihrem alten Credo durch PISA geradezu in einen Jungbrunnen
gefallen: Sind denn die Skandinavier nicht Spitzenreiter wegen ihres
Gesamtschulsystems (eigentlich sogar Einheitsschule bis Ende der
Sekundarstufe I)? Ihre Gegner kontern: In der innerdeutschen Ergänzungsstudie
PISA-E haben eindeutig die CDU-Länder gesiegt, also die
SPD-Gesamtschul-Länder versagt. Doch „die Analyse der Befunde zu PISA-E darf
insgesamt nicht vergessen machen, dass der innerdeutsche Streit ein Streit
darum ist, wer in der zweiten Liga die ersten Plätze einnimmt,“ wie der
Essener Bildungsforscher Klemm richtig bemerkt (→die Quellen sind summarisch am
Ende aufgelistet). 1. Problem+/-Analyse Nicht nur wegen
PISA-E ist die CDU bildungspolitisch tonangebend, auch die politische
Verschiebung in den Ländern und damit im Bundesrat hat die SPD in der KMK in
eine aussichtslose Minderheitenposition gebracht: das einzige Land mit einer
ungebrochenen SPD-Bildungspolitik ist NRW; die alten CDU-Länder
Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz wurden von der SPD unter Beibehaltung
des Schulsystems übernommen, die SPD-Bastionen Hessen und Hamburg gingen
verloren, Niedersachsen wechselte zur CDU zurück. Zudem fiel der turnusmäßige
Wechsel im Vorsitz der KMK dieses Jahr an die hessische Ministerin Karin
Wolff, die dies geschickt für ihre Politik nutzt. Festlegung von Bildungs-
und Leistungsstandards, Zentralabitur, Vergleichsarbeiten in verschiedenen
Klassenstufen und permanente Evaluierung durch Tests stehen auf dem Programm.
NRW und Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Rheinland-Pfalz stehen
bislang beim Zentralabitur noch abseits, dürften aber über kurz oder lang
folgen. Wesentliche Aspekte innerhalb der Gesamtproblematik
werden kaum oder nicht erkannt, wenig, gar nicht oder falsch diskutiert: die
Relation zwischen Lebensalter und Lernalter der deutschen Schüler im
internationalen Vergleich; Organisation von Unterricht im internationalen
Vergleich (Ganztagsschulthematik); (fehlende) Bilanzen unserer
Bildungsmodelle gemessen an ihren eigenen Ansprüchen. Unberücksichtigt oder unterbelichtet blieben in der
innerdeutschen Debatte bislang wichtige empirische Kontextfaktoren, so z. B.
die Tatsache, dass in den gut abschneidenden CDU-Ländern bei PISA-E auch mehr
unterrichtet wird als in den SPD-Ländern: Bayern, Thüringen, Sachsen,
Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein liegen über dem Durchschnitt von
9082 Gesamtunterrichtsstunden bis zum Ende des 9. Klasse, die größte Spanne
liegt zwischen Bayern mit 9829 und NRW mit 8778 Std.; die bayrischen Schüler
hätten im selben Zeitraum also 1051 oder ca. 10% mehr Unterricht erhalten als
die nordrhein-westfälischen, das sind konkret z.B. 3 Std./Woche mehr in
der Grundschule. Damit soll
wohlgemerkt keine lineare Funktion zwischen Quantität und Qualität
konstruiert werden, die Einzelzahlen würden dies widerlegen: z.B. hat
Sachsen-Anhalt den meisten Deutschunterricht und schneidet dennoch schlecht
beim Leseverständnis ab. Vielmehr geht es um den Gesamteffekt schulischer
Präsenz, die in Deutschland ohnehin im internationalen Maßstab die niedrigste
ist, nirgendwo werden Schüler so sehr sich selbst überlassen (nachmittags zu
Hause) wie bei uns. Ähnliches gilt für die Lehrer-Schüler-Relation, die in
der Sekundarstufe in Bayern die niedrigste ist (1:17 gegenüber 1:20 in NRW).
Auch hier heißt dies nicht, das in kleineren Klassen besserer Unterricht
läuft, aber die Kumulation mehrerer solcher Faktoren kann nicht ohne
Auswirkungen bleiben. Die IGLU-Studie zu den Grundschulen hat im Übrigen
gezeigt, dass die schnelle Problemabwälzung vom Sekundarbereich auf die
Grundschule verfehlt war. Doch bezeichnenderweise fehlt jenseits der Freude
über das vergleichsweise gute Abschneiden Deutschlands eine aufrichtige
Bilanz, die IGLU mit PISA verknüpft: die Krise der Bildung in Deutschland
fällt mit dem schwierigsten Lebensalter der Schüler, nämlich mit der Pubertät
zusammen. Dies liegt auch daran, dass die deutschen Schüler im
internationalen Vergleich zu spät eingeschult werden und die entsprechende
fachliche Progression des Unterrichts (wenn es also „richtig schwer“ wird) in
der deutschen Schülerbiographie unter lernpsychologischen Gesichtspunkten zu
spät einsetzt. In Ländern wie Frankreich, die schon durch ein Vorschulsystem
früher einschulen und außerdem nur 12 Jahre bis zum Abitur haben (was jetzt
nach dem ostdeutschen Vorbild auch in Westdeutschland durchgesetzt wird, als
nächstes in Hessen), werden schwierige Etappen des Fachunterrichts eindeutig
früher und dadurch besser in der Schülerbiographie bewältigt. Zur späten
Regeleinschulung in Deutschland kommt ja auch noch ein relativ hoher Anteil
Zurückstellungen bei der Einschulung von knapp 10% sowie der hohe Anteil der
Wiederholer hinzu: 25% im Durchschnitt in den alten Ländern (gegenüber 14,9%
im Osten), im Ganzen macht dies für die alten Länder statistisch ca. ein
Drittel der Schüler aus, die ihren Schulabschluss ein Jahr später als im
Regelfall abschließen. In Frankreich machen die Schüler mit 18 Abitur, bei
uns sind viele bereits 20 Jahre alt; schon wegen der Diskrepanz zwischen der
Schülersituation und der immer früheren psycho-sozialen Loslösung aus dem
Elternhaus müssen sich daraus Motivationsprobleme und schulische
Konfliktpotentiale ergeben. Mit einem Wort: unsere Schüler sind zu alt. Diese strukturellen Faktoren werden in der Debatte
minimal oder gar nicht berücksichtigt. Der Faktor „Stundentafel“ wird zwar
summarisch im Bericht der KMK erwähnt, nicht mehr jedoch bei den sogenannten
„bildungspolitischen Handlungsfeldern“; außer einigen allgemeinen Aussagen
tauchen hier konkret nur die gezielte Förderung der Lesekompetenz im
Grundschulbereich, eine eventuell frühere Einschulung sowie die
Ganztagsangebote auf. Mit Ausnahme der vage formulierten Einschulungsfrage
sind dies jedoch nur Maßnahmen in Richtung Problemgruppen, während PISA ja
gerade offenbarte, dass es auch einen Rückstand in der Breite und bei den
besseren Schülern im internationalen Vergleich gibt. Symptomatisch ist gerade
das sogenannte „Ganztagsangebot“, mit dem ein konkreter Schritt zur
Problemlösung suggeriert wird. Was da z.B. in Rheinland-Pfalz (SPD) oder in
Hessen (CDU) praktiziert wird, hat mit der Ganztagsschule (leider) nichts zu
tun, vielmehr ist es das, was man früher den „Hort“ nannte, nur diesmal an der
Schule selbst organisiert. Allein die Tatsache der Freiwilligkeit macht
daraus einen pädagogischen Nonsens, denn der gedrängte Vormittagsunterricht
bleibt ja bestehen. Sinn des Ganztagsunterricht – das muss überhaupt erst
einmal gesagt werden –, ist ja nicht viel mehr Unterricht, sondern die
pädagogisch ausgewogenere Streuung inklusive Betreuungsgarantie für
berufstätige Eltern. Nur letzteres bietet auch das „Ganztagsangebot“, ob die
Zielgruppe jedoch darauf überhaupt anspricht, wird sich erst zeigen müssen. 2. Freiheit+/-Pflicht Die offizielle Diagnose lautet: Schulen und Lehrer
machen zu sehr, was sie wollen, und das schlecht. Unsere Bildungsprobleme
sind tatsächlich das Resultat einer Freiheit mit vielfältigen Facetten: Freiheit
der Schüler, Lehrer, Eltern; Freiheit der Schulen; Freiheit der Parteien,
Regierungen, Politik auf Länderebene. Zur Lösung der Probleme wird derzeit
angeboten: weniger Freiheit für
Schüler und Lehrer, zugleich aber mehr Freiheit für Schulen, Länderpolitik... Die Freiheit des Lehrers hat zweifellos zu einer nicht
akzeptablen Bandbreite von Unterschieden in Unterricht,
Leistungsanforderungen und –bewertungen geführt; dies wurde den Lehrern
jedoch auch institutionell vorgegeben: Unterricht und Leistungskriterien
müssen an die Lerngruppe angepasst werden. Das klingt einerseits
selbstverständlich, führt aber andererseits dazu, dass je nach Schule,
Schultyp, soziokulturellem Einzugsbereich sowie Eigendynamik der Klassen
unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden. Allein durch diese Vorgabe driften
die Unterrichte auseinander, am Ende sollen jedoch alle eine vergleichbare
Abschlussqualifikation erhalten, mit dem Abitur an der Spitze, das deswegen
(wieder) zentralisiert wird: „Verschiedene Wege zum selben Ziel“ lautet die
Parole. Der Diskurs über den Missbrauch der pädagogischen Freiheit hat jedoch
diese Rahmenbedingungen weitgehend ausgeblendet – auch in den Thesenpapieren
der Heinrich-Böll-Stiftung – und in einen billigen Pauschalvorwurf an die
Lehrer umgemünzt. Dagegen stimmt es, dass die individuelle Freiheit zu Lasten
der notwendigen Koordination zwischen den Lehrern gegangen ist. Ob das
geplante Korsett von Tests, zentralen Prüfungen und direkten Zwängen
gegenüber den Lehrern die Bereitschaft dazu fördert, ist höchst fraglich.
Eine echte Alternative dazu wäre die von der Heinrich-Böll-Stiftung
vorgeschlagene reale Autonomie der Schule, wo die Schulleitung auf Zeit von
der Schulkonferenz (Vertretung von Lehrern, Schülern, Eltern) gewählt und
dadurch Selbstkontrolle im Rahmen einer Selbstverwaltung ermöglicht würde. 3. Reform+/-Illusion Sämtliche
Reformvorschläge hinsichtlich der Lehrkräfte zielen auf eine Ausweitung ihrer
Aufgaben, sei es im klassischen Bereich ihres Fachunterrichts, sei es in der
informationstechnischen Weiterentwicklung und/oder der Übernahme zusätzlicher
Aufgaben, die den Lehrerberuf sozialpädagogisch noch mehr zu einer
Allzweckfunktion aufrüsten sollen, um entsprechend qualifiziertes Personal,
wie es in anderen Ländern an Schulen existiert, bei uns nicht auch noch
einstellen zu müssen. Zugleich wird verschiedentlich am Unterrichtsdeputat
weiter nach oben gedreht, eine Ganztagspräsenz an der Schule sowie die
Reduzierung der Ferien für Lehrer auf den Regelurlaub (4 Wochen) und die
Abschaffung des Beamtenstatus angedroht. Die Forderung nach einer
„Arbeitsplatzpräsenz“ ist jedoch surreal angesichts eines real nicht
existierenden „Arbeitsplatzes“: Welcher Lehrer verfügt denn über seinen
Computer, seinen Bücherschrank oder auch nur seinen Schreibtisch in der
Schule...? Die deutsche Schule funktioniert mit einem Minimum an
Investitionen für die Ausstattung des Unterrichtsortes und einer damit
korrelierenden und gewiss in der Besoldung eingeplanten Selbstausbeutung der
Lehrer (Beschaffung von Arbeitsmitteln auf eigene Kosten, eigener
Heimarbeitsplatz, Wochenendarbeit für Korrekturen etc.). Die geplanten Reformen beschreiten
weiterhin diesen Weg. Mit der angestrebten Finanzautonomie der Schulen soll
natürlich auch eingespart werden: mehr Freiheit bei enger geschnalltem
Gürtel. So ist es auch z.B. in Hamburg mit der Neuberechnung der
Lehrerstundendeputate nach fächerspezifischen Leistungsprofilen, die
wissenschaftlich-empirisch ermittelt wurden: Die schon sehr problematische
Frage der Gerechtigkeit dabei bleibt auf der Strecke angesichts der Tatsache,
dass sich Hamburg dabei unter dem Strich Einsparungen, also eine Erhöhung des
durchschnittlichen Unterrichtsverpflichtung verspricht. Die Lehrer sollen die
Schüler besser motivieren, heißt es immer, doch werden so die Lehrer
motiviert? Die Heinrich-Böll-Stiftung möchte gerne, dass in Zukunft nicht
einfach jeder Lehrer wird, der gerade die Prüfungen besteht, sondern eine
Auslese der Besten durchsetzen. Dies setzt voraus, dass es einen Überhang von
Kandidaten gibt, gegenwärtig läuft die Tendenz zumindest in den
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern jedoch in die entgegengesetzte
Richtung. 4. Freiheit+/- Konkurrenz Per Erlass wird nichts
revolutioniert, das hat die (Bildungs-)Politik durchaus erkannt. So soll es
das marktwirtschaftliche Prinzip der Konkurrenz richten: Ein durch Gesetz
festgelegter Rahmen von Bildungsstandards und Vergleichstests soll die
ansonsten in mehr Freiheit entlassenen Schulen zur Leistung antreiben – am
Ende steht, ausgesprochen oder nicht, ein Ranking von Schulen und Lehrern.
Positive und negative Effekte dieses in den letzten Jahren in England
eingeführten Prinzips wurden kürzlich in der Zeit dargestellt, ebenso wie
übrigens die Affinität dieses Systems zur untergegangenen sozialistischen
Planwirtschaft. Entscheidender ist jedoch, dass dieser Logik ein
realitätsfernes eindimensionales Kausaldenken von Erfolg/Misserfolg zugrunde
liegt. Jeder weiß doch, wenn er will, dass schlechte Leistungen einer Klasse
nicht pauschal dem Lehrer zugeschrieben werden können (doch genau das ist
jetzt „in“): ebenso wie verschiedene Lehrer mit verschiedenen Situationen
unterschiedlich zurecht kommen, gibt es auch unterschiedlich schwierige oder
leichte Klassen, und das sogar je nach Fach verschieden. Stattdessen geht es
jetzt in Richtung Mobbing durch Ranking. Das Schulranking zielt auch auf die Schulwahl durch die
Eltern. Für die CDU sollen die individuellen „Schulprofile“ den Eltern
Alternativen zur Wahl bieten; die Heinrich-Böll-Stiftung hat die Vision einer
freien Schulwahl, wobei das Recht (aber eben nicht die Pflicht) auf die
nächstgelegene Schule bewahrt werden soll, was miteinander praktisch
unvereinbar und auch kontraproduktiv ist: Die Anwohner einer „guten Schule“
würden auf ihr Anwohnerrecht pochen, die im Einzugsbereich einer „schlechten
Schule“ würden abwandern wollen, kämen aber durch das Vorrecht der Anlieger
der „guten Schule“ kaum unter; diese würde übrigens bei einer
Auswahlsituation ohnehin nur selektieren: nach Leistung, sozialen oder
kulturellen Kriterien. Über kurz oder lang würde sich eine Ghettoisierung
verstärken, wie dies andernorts bereits seit langem existiert (z.B. in
Frankreich). In der Konzeption von Autonomie der Schule treffen sich
alt-libertäre Autonomie- und Selbstverwaltungsideen der 70er Jahre mit der
neo-liberalen Marktidee von heute, denn auch die Heinrich-Böll-Stiftung sieht
Rahmenvorgaben in Form von Evaluierung und Qualitätssicherung auf externer
und zentraler Ebene vor (was das libertäre Autonomiemodell natürlich nicht im
Sinne hatte). Die CDU verspricht sich Leistungssteigerung durch Konkurrenz,
der freie Wettbewerb werde zeigen, welche Schule und welches Modell besser
ist (eine Art Dauer-PISA). Welche pädagogischen Freiheiten inhaltlicher Art
sich die HBS davon verspricht, bleibt unklar, letztlich ist es doch wie bei
der Freiheit des Tour-de-France-Teams im Umgang mit Strategien, Energien (und
Doping-Mitteln). Denn gemessen wird, wer wann durchs Ziel geht. Die
Zielvorgabe von 50% festgelegter Kern-Inhalte, wie sie die HBS vorsieht, ist
zwar für jeden Lehrer sympathisch, aber wenig realistisch sowie unterhalb
dessen, was noch als genereller Bildungsstandard gelten kann (Was sind denn
50% Kern-Inhalte in der Mathematik oder in der Fremdsprache?). Die derzeit in
Hessen angepeilte 2/3-Vorgabe ist praktisch in etlichen Fächern im
Gymnasialbereich gerade mal in 80-90% der zur Verfügung stehenden Zeit zu
realisieren. Eine 50%-Grenze würde eine konkrete Senkung der überprüfbaren
Standards bedeuten oder nur auf dem Papier stehen; in der Realität würden
sich die Schulen wahrscheinlich im Konkurrenzdruck ganz auf die bevorstehende
Überprüfung dieser Standards durch Vergleichsarbeiten und letztlich das Zentralabitur
konzentrieren und auch den übrigen Freiraum dafür opfern möglichst gut
abzuschneiden. Wie geschehen in England, wie üblich auch in Frankreich. |
_________________________
Heinrich-Böll-Stiftung, Chancengleichheit oder Umgang mit
Gleichheit und Differenz. 2. Empfehlung der HBS, in: Kommune N°2/02; Autonomie
von Schule in der Wissensgesellschaft. 3. Empfehlung der
Bildungskommission, Juni 2002;
Professionalität und Ethos. Plädoyer für eine grundlegende Reform des
Lehrerberufs. 4. Empfehlung der Bildungskommission, Februar 2003. (www.boell.de) Kultusministerkonferenz, Bewertung der bundesinternen
Leistungsvergleiche (PISA-E), 25.06.2002.; Pressemitteilung: Beschluss
der KMK zu den IGLU-Ergebnissen vom 08.04.2003. (www.kmk.org) Arbeitsgruppe
Bildungsforschung/Bildungsplanung der Universität Essen (www.uni-essen.de): Klaus
Klemm, PISA-E – Erste Einschätzungen (s.a. Frankfurter Rundschau, 26.07.02);
Gertrud Hovestadt, Schule in
Deutschland 1999/2000 - Statistische Grundlagen für einen Ländervergleich,
Mai 2002. Hessisches
Kultusministerium, Pressemeldung vom 22.07.2003.
(www.kultusministerium.hessen.de) John
F. Jungclaussen, „Testen, testen, testen. Mit Bildungsstandards und
Schulvergleichen wird Englands Nachwuchs auf Leistung getrimmt. Ein Vorbild
für Deutschland?“ in: Die Zeit
N°32, 31.07.2003, S.61. |
|
|
|
Die
Zeit Nr. 49, 25.11.2004) |
Die
PISA-Revolution geht weiter... Neue Untersuchungen zur deutschen
Bildungslandschaft: ·
Der Bildungsmonitor der INSM ·
PISA 2003 Kommentare und Links zu den Veröffentlichungen Die
Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – INSM ist eine Initiative der
deutschen Wirtschaft mit einer Zielsetzung, die in der Namensgebung zum Ausdruck
kommt, und beschäftigt sich mit der deutschen Bildungsproblematik im Hinblick
auf die wiederum in der Adresse ihrer Homepage zum Ausdruck kommenden
Zielsetzung: „Chancen für alle“. Die
INSM hat die deutsche Bildungslandschaft nach eigenen Angaben erstmalig
einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung aufgrund zahlreicher
statistischer Daten unterworfen – vom Grundschul- zum Hochschulbereich – und
dabei ein Ranking der Bundesländer nach über hundert Einzelkriterien
aufgestellt. Der Sinn dieser Vermengung ganz unterschiedlicher Aspekte des
Bildungssystems im „Gesamt-Benchmarking“ ist durchaus problematisch weil
einem zweifelhaften Drang nach äußerlicher Erfolgs-Publicity geschuldet, die
den Blick auf manche Realitäten eher verstellt: So werden dadurch Schwächen
im einen durch Stärken im anderen Bereich ausgeglichen; Bayern mag sich
freuen, wieder auf Platz 1 dabei zu stehen, aber bemerkenswert ist doch die
Tatsache, dass, wie ich schon in meinem ersten Artikel zu PISA (siehe oben)
ausgeführt habe, das bayerische Bildungssystem zwar sehr gute aber dafür zu
wenige Abiturienten und Akademiker hervorbringt. Die Zeit brachte daher prägnant die
Schere zwischen den Extrempositionen der Bundesländer auf den Nenner: „Bayern braucht mehr Abiturienten, Bremen ein besseres
Abitur.“ Auf
der Website der INSM (Bildungsmonitor) kann man jedoch auch Einzelinformationen
abrufen, freilich ohne allzu viel über deren Erhebungskriterien zu erfahren.
Bei der Problematik von Statistiken und deren Interpretation wäre hier
zumindest etwas mehr Transparenz sehr hilfreich. |
|
Bildungsland Hessen??? Der
Bildungsmonitor für Hessen bestätigt die Erfahrungen von PISA 1 und IGLU: die
hessischen Grundschulen stehen relativ gut da, der Sekundarbereich um so
schlechter. Ich meine, die Bildungsprobleme bündeln sich genau in der für PISA
ausgesuchten Zielgruppe der 15-jährigen, wie ich es bereits in meinen zweiten
PISA-Artikel angesprochen habe (siehe oben). Nach verschiedenen
Untersuchungskriterien steht Hessen im Bereich der allgemeinen weiterführenden
Schulen auf Platz 13 aller Bundesländer. So gibt Hessen z.B. weniger Geld für
die Gymnasialbildung aus, meint die Studie und kommentiert: „Wer
eine bessere Leistungsfähigkeit der Schüler fordert, muss dafür auch entsprechend
die Voraussetzungen schaffen. Dies kann auch höhere Ausgaben für die
Gymnasien bedeuten, denn für diese steht in Hessen im Vergleich zum Rest der
Republik wenig Mittel bereit (4700 Euro pro Schüler vs. 5300 im Bundesschnitt
2001).“ Dabei
steht Deutschland insgesamt im internationalen Vergleich bei seinen
Bildungsausgaben schon schlecht da, was bereits PISA 2000 bilanzierte und
zuvor schon kein Geheimnis war. Nun bedeuten numerische Statistiken sowohl
international wie innernational nicht alles, die Zahlen sagen per se nichts
darüber aus, wofür das Geld ausgegeben wird. Gleichwohl bleibt es
verwunderlich, wenn ein Spitzenland der Weltwirtschaft wie Deutschland,
Weltmeister im Export – eine Stellung, die ja nur auf dem deutschen Know-how
basieren kann –, in den Bildungsausgaben wie auch in den Bildungsergebnissen
unterdurchschnittlich abschneidet. Bei
der mangelnden Förderung durch die Landesregierung in Hessen können sich
Schul- und Hochschulbereich die Hände reichen: Die Bildungsausgaben in
Relation zur den gesamten öffentlichen Ausgaben liegen unter dem Bundesdurchschnitt.
Wie für die Bundesrepublik im internationalen Vergleich, so gilt auch hier:
Angesichts dessen, dass Hessen zu den wirtschaftsstärksten Bundesländern
gehört, ein besonders skandalöses Ergebnis, wie ich meine. Entsprechend die
Investitionen in die Sekundarstufe II, also die gymnasiale Oberstufe, zur
Vorbereitung auf das Abitur: Die statistisch jedem Oberstufeneichensich
benn Schul- und Hochschulbereich Hand in Handso gilt auch hier: schaft wie
Deutschlandgebnis, wie ich meine.m Bundesschüler erteilten Unterrichtsstunden
liegen unter dem Durchschnitt, und „die Schüler-Lehrer-Relation in der
Oberstufe (13,7) zählt zu den schlechtesten in Deutschland und bleibt
deutlich hinter den Spitzenländern zurück (Bayern: 11,6; Schleswig-Holstein:
11,7).“ |
Siehe
Spiegel Online, „Pisa-Alarm“,
22.11.2004 die
tageszeitung, 24.11.2004, S.1 |
Die neue PISA-Studie: Publizieren geht vor Studieren... Die
in der üblichen Manier vorab veröffentlichen Essentials von PISA 2003 –
welches Medium, ob TV oder Zeitung, widmet sich später noch den Details? –
bestätigen im Wesentlichen die Ergebnisse von PISA 2000. Den Jubel gegen den
Strom, den die ZEIT vom 25.11.2004 auf ihrer Titelseite angesichts minimaler
Besserplatzierungen anstimmt, nach dem Motto „Deutschland nicht schlechter
reden als es ist“, kann ich nicht teilen. Das Ergebnis von PISA 2 dürfte im
Gegenteil das erste wirklich ernsthafte und ernstzunehmende Testergebnis
sein, da ich vermute, dass bei PISA 1 viele Probanden den Test einfach nicht
ernst genug genommen haben. Jetzt waren alle teilnehmenden Schüler
entsprechend eingestimmt. Als
Hauptproblem zeigt sich erneut das Lese- und Textverständnis (beim Mathe-Test
das Verständnis der Aufgabenstellung), erneut zeigen sich soziokulturelle
Diskrepanzen in der Schülerschaft in Relation zu Einkommen, Bildungsstand und
Herkunft der Eltern. Kein vergleichbares Industrieland präsentiert sich im
Bildungsbereich so sehr als Klassengesellschaft wie Deutschland, in keinem
gibt es eine vergleichbare Segregation von Migranten, zumal noch in der
zweiten oder dritten Generation, denn in anderen Ländern (Großbritannien,
Frankreich...) haben zumindest diese Nachkommen von Einwanderern automatisch
die Staatsbürgerschaft des Aufnahmelandes bekommen, während dies in
Deutschland erst seit kurzem möglich ist und sicherlich angesichts der weiter
bestehenden kulturellen Kluft lange braucht um sich wirklich auf breiter
Ebene durchzusetzen. Doch
sollte die „Ausländer-Thematik“ nicht vom Wesentlichen ablenken. Wie schon
bei PISA 1, so gibt es auch jetzt eine Tendenz, das schlechte deutsche
Abschneiden darauf zurückzuführen: "Die Ausländer- und Aussiedlerkinder
ziehen den ganzen Schnitt runter, das ist seit Jahren eine Erkenntnis aller
Kultusminister. Das ist kein Vorwurf an die Kinder, das ist einfach die
Analyse." Dies meint der niedersächsische Bildungsminister Busemann
(CDU), doch die Entlastung vom etwaigen Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit,
die der Minister im letzten Satz prophylaktisch unternimmt, steht der
Tatsache gegenüber, dass die „Analyse“ der mangelnden Deutschkenntnisse in
der öffentlichen Diskussion ganz eindeutig mit einem Vorwurf der mangelnden
Integration an die „Ausländer“ gekoppelt ist. In der Rede von den
„Parallelgesellschaften“ „wird der Zusammenhang von Integration und
Segregation ausgeblendet“, kommentiert Christian Semler in der taz, denn
angesichts einer jahrzehntelang nicht erfolgten weil nicht gewünschten
Integration in die bundesrepublikanische Staatsbürgergesellschaft bestand für
die Immigranten und deren Nachkommen die Integration gerade in der
Integration in ihre Parallelgesellschaft. Noch
ein Blick auf Hessen: Interessanterweise ist Hessen das Bundesland, in dem
laut Bildungsmonitor der INSM Schüler aus Migrantenfamilien den größten
Bildungserfolg haben: „Die
Chancen für ausländische Jugendliche, die Hochschulreife zu erwerben, sind
nirgendwo größer als in Hessen. Mit 24,9 Prozent war die Studienberechtigtenquote
unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich höher als im Bundesdurchschnitt
18,4 Prozent.“ Klargestellt
werden muss hierzu freilich, dass sich dies die jetzige Landesregierung
nicht auf ihr Erfolgskonto schreiben kann, die heutigen Abiturienten und Hochschüler
mit Migrationshintergrund wurden schon vor langer Zeit eingeschult. 28.11.2004 |
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Was wir schon immer über PISA wissen wollten und
uns die Presse nicht zu sagen wagte... : ...
wo Deutschland zur Spitzengruppe gehört ! Thema: Schulklima als Faktor für
Schülerleistungen Hier: Befragung der Schüler nach
Beeinträchtigung des Lernens durch... 1. Störung des Unterrichts durch
Schüler 2. Schikanieren von Schülern durch
Mitschüler Zu 1.: 51% der deutschen Schüler sehen eine Beeinträchtigung
des Lernens durch Störung des Unterrichts durch Schüler. Innerhalb Europas haben nur Norwegen (74%), Island (61%)
und Spanien (59%) deutlich höhere Werte, ungefähr dieselben Werte haben die
Schweiz (52%), Griechenland (52%), aber auch Schweden (50%). / OECD Æ 40%. Zu 2: 24% der deutschen Schüler sehen eine Beeinträchtigung
des Lernens durch Schikanieren von Schülern durch Mitschüler. Innerhalb Europas befindet sich Deutschland zusammen mit
Island (25%) und der Schweiz (24%) damit an der Spitze. / OECD Æ 15%. Die Schülerdisziplin in Mathematik wird jedoch in
Deutschland im Vergleich zum OECD-Mittelwert als überdurchschnittlich gut
angegeben. Gleichzeitig weist die Analyse der Befragung durch die
OECD aus, dass die dem zugrunde liegende subjektive Toleranzgrenze in
Deutschland weit höher liegt als im Durchschnitt. Aus der PISA1-Studie (2000) ►Lernen für die Welt von morgen – erste Ergebnisse von
PISA 2003, S.245f. www.oecd.org/PISA W.G. Dez.
04 |
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Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung, 19.9.2004, S.16. taz,
22.9.2004, S.1,7 Spiegel
Online, 22.9.2004 Spiegel
Online, 18.5.2004 Zusammenfassung
der OECD-Studie beim Bundesministerium für Forschung und Bildung |
Desinformationen
über Lehrer/innen und den Lehrberuf Das
ABC der Vorurteile und das Einmaleins der Aufklärung darüber Im Zuge der neuen Bildungsdebatte nach
PISA gibt es eine wenn nicht in ihrer Absicht so doch in ihrer Wirkung
systematische Desinformationskampagne gegen den Lehrberuf und die ihn
ausübenden Lehrer/innen in Deutschland. Dazu gehört schon die Art und Weise
der Veröffentlichungen, wie sie sich aktuell bei der neuen OECD-Untersuchung
„Bildung auf einen Blick 2004“ wiederholt: erst „Vorabinformationen“ in der
Presse, offiziöse Halbwahrheiten und dann offizielle Zusammenfassungen und
Bilanzen der Untersuchung im Vorfeld der eigentlichen Veröffentlichung ihrer
nachprüfbaren (oder auch nicht nachprüfbaren...) Grundlage. Bevor man die Details der Untersuchung überhaupt
erst zu lesen bekommt, hat ihr Ergebnis bereits Stimmung gemacht. Dabei sind
Statistiken schon beim besten Willen zur Objektivität erfahrungsgemäß alles
andere als einfach zu interpretieren – auch für Experten und solche, die sich
dafür halten, wie PISA auch gezeigt hat. |
Gewiss
brauchen wir den Blick nach draußen und den Blick von draußen auf uns selbst
und internationale Vergleiche kommen um Statistiken nicht herum. Allerdings
droht ein „zugleich wirklichkeitsblindes und sich selbst überschätzenden
statistisches Bewusstsein“ (FAZ) vor lauter Zahlen die Welt nicht mehr zu
sehen... So
„lag“ z.B. der tageszeitung „die OECD-Studie vor“ aber da stand angeblich nur
drin, „was ohnehin schon alle wissen“, und so reiht sich auch diese sich als Alternative
zum medialen mainstream verstehende Zeitung in den mainstream der
Desinformation ein: „Lehrerstand: Alt, krank, frustriert – gut bezahlt“ sagt
die taz, und konkurriert mit anderen in der Polemik, z.B. dem Spiegel:
„Klatsche für deutsche Lehrer: Satt, überaltert, ausgebrannt“, „Zu alt, zu
träge, überbezahlt“. – Da erinnert man sich an den Spruch von „den faulen
Säcken“, der, wie wir wissen, auch von Gerhard Schröder „nie so gemeint“ war. Doch worin besteht und wie funktioniert die
Desinformation genau? |
|
taz,
22.9.2004, S.1 Spiegel
Online, 22.9.2004 |
1. Desinformation pur oder die
Macht der Zahlen Lehrer
verdienen offenbar viel... zu viel. Um das Ressentiment zu schüren, genügt
die Macht der Zahlen. Z.B. sind die jüngst in der taz veröffentlichten Zahlen
über die Lehrerbesoldung schlicht falsch: angeblich fast 38.000 $
Jahresgehalt für eine/n angehende/n Grundschullehrer/in und mehr als 52.000 $
für eine/n Gymnasiallehrer/in nach 15 Jahren sind Beträge, die erheblich über
der Realität liegen, v.a. im Rückblick für die Jahre 2001/2002,
Bezugszeitraum für die Untersuchung der OECD (2001 stand der $ sogar noch
über dem € !). Eine entsprechende Größe gibt auch der Spiegel an,
kleingedruckt findet man dort immerhin neben der Tabelle den Hinweis „kaufkraftbereinigte
Jahresgehälter“ – doch was bedeutet das eigentlich? Dabei
kann man doch die echten Zahlen einfach im Internet z.B. bei www.tresselt.de (mit
Erläuterungen) oder gleich mit der entsprechenden Tabelle beim Beamtenbund www.dbb.de
oder der GEW www.gew.de abrufen. Die GEW
beteiligt sich mit anderen Gewerkschaften auch an der bundesweiten Umfrage zu
den Tariflöhnen (www.lohnspiegel.de). |
|
2. Die halbe Wahrheit ist keine
Wahrheit Zahlen und Realitäten im
internationalen Vergleich (I) Im
internationalen Vergleich seien die deutschen Lehrer „hochbezahlt“ und folglich
in Ermangelung der entsprechenden Gegenleistung „überbezahlt“. Ja,
deutsche Lehrer verdienen mehr als andere, aber sie arbeiten dafür auch mehr
als die meisten anderen! Aus der in der Tat bereits seit langem bekannten
Statistik, die der Spiegel noch einmal übernommen hat, ist abzulesen, dass
lediglich in den USA, Großbritannien und den Niederlanden die abgeleistete
„Unterrichtszeit“ höher ist, in allen anderen Ländern ist sie niedriger als
in Deutschland. In
Frankreich z.B. haben die Lehrer (ich kenne etliche persönlich) eine
geringere Unterrichtsverpflichtung und verdienen entsprechend weniger, wobei
allerdings die Berechnungsgrundlage durch komplizierte Statusunterschiede
der Lehrkräfte sowie durch eine andere Unterrichtsorganisation erschwert wird.
Gewiss gibt es eine Präsenzpflicht über den Unterricht hinaus im Rahmen des
Ganztagsschulbetriebs, dafür aber auch oft einen freien Tag in der Woche...
Schon die Länge der Unterrichtsstunde spielt eine große Rolle für den
Vergleich: In Frankreich werden die Stunden zu 60 Minuten gerechnet, wobei
ca. 5 Min. Pause zum Raumwechsel für die Klasse einkalkuliert sind. Rechnet
man mit 55 Min., entsprechen also 18 französische Unterrichtsstunden ca. 22
unserer 45-Min.-Stunden, aber ich habe als Lehrer in Frankreich deswegen
trotzdem nur 18 Stunden-Einheiten zu unterrichten und dadurch auch weniger
Schüler zu betreuen. Man
kann also Aussagen über „gute“ oder „weniger gute“, gerechtfertigte oder
ungerechtfertige (denn das ist
gemeint!) Bezahlung nicht ohne die geleistete Arbeit vergleichen und diese
Berechnung ist hochkomplex. Deswegen sind pauschale Aussagen über die „gut“,
„sehr gut“ verdienenden, „hoch“ oder „überbezahlten“ deutschen Lehrer im
internationalen Vergleich nur halbe Wahrheiten und werden zur Desinformation,
wenn nicht auch gleichzeitig die Arbeitszeiten und sonstigen Belastungen
international verglichen werden, und zwar richtig verglichen! So werden z.B.
auch viele Tätigkeiten außerhalb des eigentlichen Unterrichts in anderen
Ländern durch zusätzliches Personal (z.B. Psychologen, Sozialarbeiter, mehr
Verwaltungspersonal usw.) abgedeckt. Es ist bekannt, dass die Lehrer in den
USA relativ schlecht verdienen und dafür relativ viel arbeiten müssen.
Weniger krass aber immer noch spürbar ist die Differenz zu Großbritannien und
den Niederlanden, das allein berechtigt jedoch nicht vom „überbezahlten“
deutschen Lehrer im internationalen Vergleich zwischen 25 Ländern zu
sprechen. |
Spiegel
Online, 22.9.2004 |
3. Dollar, Euro, was habe ich davon? Zahlen und Realitäten im
internationalen Vergleich (II) Noch
einmal zum Einkommen: Auch wenn man die richtigen Zahlen zugrunde legt,
bleibt für den internationalen Vergleich zunächst einmal die Schwankung im
Wechselkurs zwischen Dollar und Euro zu berücksichtigten. Und dann: Was wird
eigentlich verglichen? Grundgehalt, Gesamteinkommen, brutto oder netto,
Einkommen von Ledigen, Verheirateten, die Familiensituation...? Was heißt
„kaufkraftbereinigt“? Auch wenn sich hier ein gemeinsamer Nenner finden würde,
den ich aus den früher schon veröffentlichten Statistiken nicht ersehen kann,
auch dann blieben immer noch weitere Fragen zu klären. Zunächst einmal: Warum
nur die Lehrer vergleichen? Deutsche
Lehrer verdienen mehr als z.B. die französischen, das gilt aber auch für fast
alle anderen Berufe. Warum wird dies bei den Lehrern als ungerecht empfunden? Was
bringt eigentlich ein Einkommensvergleich? Innerhalb
der Euro-Zone haben wir heute einen echten Zahlenvergleichsmaßstab, aber was
sagen die Zahlen eigentlich aus? Wie jeder weiß, sagt das nominelle Einkommen
noch nichts Definitives über den damit verbundenen Lebensstandard, nur über
die Kaufkraft wird die Realität erfasst. Erst wenn klar wird, was man mit
seinem Nominalgehalt überhaupt anfangen kann, kann ein seriöser
internationaler Vergleich stattfinden, freilich gibt es da auch
inner-nationale Diskrepanzen: Es macht einen Unterschied, ob man in Paris
oder in der Provinz, in der Stadt oder auf dem Land lebt, in Deutschland ist
das ähnlich. Die OECD-Zahlen sind als „kaufkraftbereinigte Jahresgehälter“
ausgegeben, was in der journalistischen Normalberichterstattung schon unter
den Tisch fällt, allerdings muss man hierzu nach den Berechnungsgrundlagen
und ihren Schlussfolgerungen fragen. Sollte es sich in Deutschland billiger
leben als in den Nachbarländern? Kaum vorstellbar. Doch auf den Kontext kommt
es tatsächlich an. Als jemand, der mit seiner Familie zehn Jahre in
Frankreich lebte, kann ich zu solchen Vergleichen nur sagen: je nach Kontext
ist weniger oft mehr... |
|
4. Unverdiente Besserverdienende
auch im deutschen Maßstab? Der
internationale und der innernationale Vergleich sind ja nur zwei Seiten einer
Medaille, das Vorurteil (von Leuten, die es nicht besser wissen aber besser wissen
könnten, wenn sie wollten) und die Desinformation (wider besseres Wissen)
werfen ja seit langem den Lehrern vor zu viel zu verdienen und zu wenig zu
arbeiten. Doch liegen deutsche Lehrer/innen ungefähr im statistischen Mittel
der deutschen Einkommen im Angestelltenbereich, wie es das Statistische
Bundesamt (www.destatis.de)
ermittelt hat. Was heißt also „hoch“, „sehr gut“ oder „zuviel verdienen“...? |
|
5. Gutbezahlter Halbtagsjob? Und
last but not least wird in keinem anderen vergleichbaren Beruf so viel
gearbeitet wie im Lehrerberuf. Das überrascht jeden Außenstehenden und diese
Aussage ist natürlich Gegenstand einer heftigen Kontroverse (siehe dazu auch
weiter unten). Fakt ist jedoch: die aktuelle Unterrichtsverpflichtung in
Hessen nach der letzten Erhöhung gleicht ungefähr der von vor 100 Jahren
(Info von der GEW mit konkreten Vergleichszahlen). Wenn man jedoch
berücksichtigt, wie hoch damals der durchschnittliche Aufwand z.B. pro
Korrektur einer Klassenarbeit war und wie hoch er heute ist, kann man gewiss
vermuten, dass die Gesamtarbeitsbelastung bei gleicher
Unterrichtsstundenzahl heute höher ist als vor 100 Jahren. Unterrichtszeit
und sonstige Arbeitszeit Schließlich
ist die Gesamtarbeitsbelastung überproportional zur Entwicklung der
Unterrichtsverpflichtung gestiegen. Die alte Formel zur Berechnung der Vor-
und Nachbereitungszeit für den Unterricht – die aktuelle Gleichsetzung mit
der 42-Std.Woche der übrigen Beamten in Hessen legt den Faktor 1,6 (für
Gymnasiallehrer) zu Grunde – entspricht nicht mehr der Realität. Wie schon
erwähnt, wurde in früheren Zeiten weit weniger Aufwand für Korrekturen und
andere Dinge betrieben. Durch das Gebot der Transparenz sollen die
Leistungsanforderungen und Leistungsbewertungen gerechter werden. Dies ist
natürlich gerechtfertigt, es bringt aber mehr Arbeit mit sich, die in keine
Rechnung eingegangen ist. Die Verkürzung der Stundentafel und die Reduzierung
der Stunden für die Hauptfächer auf z.T. nur 3 Stunden pro Woche führt dazu,
dass man mehr Klassen und dadurch mehr Korrekturen hat als früher: hatte man
bei 12 Stunden Deutsch oder Fremdsprache früher drei Klassen, so sind es
heute rechnerisch in den betroffenen Jahrgangsstufen vier Klassen. |
|
6. Der Mythos von 70 Tage Urlaub Niemand
hat so viele Ferien wie Lehrer... Ja, aber bei einer 6-Tage-Arbeitswoche. Auf
meine Nachfrage hin, warum den Lehrern zusammen mit den anderen Beamten die
Arbeitszeit erhöht wurde, obwohl sie anders als die anderen Beamten
seinerzeit keine Reduzierung auf eine 38,5-Std.-Woche erfahren haben (sondern
im Gegenteil schon damals eine Erhöhung), begründete der hessische
Ministerpräsident in einem Brief an mich seine Entscheidung mit Berufung auf
eine vergleichende Untersuchung über die Arbeitszeiten. Danach sind die
Ferien außerhalb des regulären Jahresurlaubs für Lehrer Kompensationen für
eine Arbeitswoche, in der weit mehr als in der vergleichbaren
Normalarbeitswoche gearbeitet wird (Korrekturen am Wochenende usw.). Ganz simpel:
mehr Arbeit in der Woche, dafür Entlastungen durch zusätzliche Freizeit,
nämlich in den kleinen Ferien. |
|
7. Der Beamten-Mythos Lehrer widersetzen sich
angeblich jeder Veränderung und sind damit ein wesentlicher Faktor für die Immobilität
des Bildungssystems, dies läge auch an ihrem Beamtenstatus, so die Position
der OECD-Bildungsexperten, eine von der Presse mit Handkuss aufgenommene und
gleich noch weiter aufgebauschte Desinformation. Denn dieses vermeintliche
Argument suggeriert ja, in anderen Ländern sei es anders. (Vergessen wir
nicht: es geht um einen internationalen Vergleich!). Sind also die Lehrer in
den Nachbarländern etwa keine Beamte? Gemeint ist damit ja: „unkündbar“. Aber
sowohl als Angestellter im Öffentlichen Dienst in Deutschland als auch im
Öffentlichen Dienst anderer Länder gibt es kein „hired and fired“-Prinzip
(wohl nicht einmal in den USA), auch in anderen Ländern ist der Lehrberuf
eine Lebensstellung und entlassen werden kann jemand nur bei schweren Versäumnissen
seiner Pflichten. Der französische fonctionnaire unterscheidet sich vom
deutschen Beamten eigentlich nur dadurch, dass er das Streikrecht hat (und
auch gezielt Gebrauch davon macht); auch in Frankreich wurde der
Immobilitätsvorwurf vor einigen Jahren lautstark von dem damaligen
Bildungsminister Allègre in die Öffentlichkeit getragen, am Ende aber war er
es, der er seinen Posten räumte. Gleichwohl gibt es in Frankreich keine
vergleichbare Verunglimpfung der Lehrer wie hierzulande, die deutschen Lehrer
haben das schwere Los, gleich zwei massive Ressentiments der Öffentlichkeit
auf sich zu laden: erstens weil sie Lehrer sind und zweitens weil sie Beamte
sind. |
|
8. Der Renten-Mythos Zur Neid-Kampagne gegen das
angeblich hohe Einkommensniveau der Lehrer gehört das eingefleischte
Vorurteil, die Beamten bezahlten keine Rentenbeiträge. Tatsache ist jedoch,
dass diese Beiträge für die Beamtenpensionskasse sehr wohl Teil des Gehalts
sind, dort aber nicht ausgewiesen, weil zu 100% vom Staat übernommen und gleich
von vornherein zurückbehalten werden. Dies macht den finanziellen Unterschied
zum Angestelltenstatus aus, dafür gibt es auch kein Streikrecht für Beamte.
Die Bundesländer mussten also entsprechende Pensionsbeiträge zurücklegen und
haben dies, wenn auch von Land zu Land unterschiedlich, nicht oder nur
unzureichend getan. Nicht die Beamten zahlen also nichts ein, sondern der
Staat nicht, die anzusparenden Rücklagen wurden und werden anderweitig
ausgegeben, eine steigende Zahl von Pensionären nur noch aus dem laufenden
Haushalt, d.h. aus den laufenden Einnahmen, bezahlt und damit in der Tat eine
bedrohliche Lage geschaffen. |
|
9. Der Mythos von der schlechten
Lehrerausbildung Natürlich kann und muss sich die
Ausbildung zum Lehrberuf verbessern, d.h. der Bezug zur zukünftigen
pädagogischen Praxis schon im Studium konkreter werden. Internationaler
Vergleich Das heißt jedoch nicht, dass die
deutsche Lehrerausbildung bisher nur schlecht gewesen und am schlechten Abschneiden
bei PISA schuld wäre. Dies zu behaupten ist vielmehr nur eine der Varianten,
die Lehrer generell dafür verantwortlich zu machen: schlecht ausgebildet,
wenig interessiert an Weiterbildung, zu alt, zu faul, zu gut bezahlt... Im
Gegensatz zu dieser interessegeleiteten deutschen Nabelschau genießt das
deutsche Lehramtsreferendariat international durchaus ein beträchtliches
Ansehen, in Frankreich wurde es zu Beginn der 90er Jahre gerade zum Vorbild
für eine entsprechende Reform der dortigen Lehrerausbildung im
Sekundarbereich genommen. Lediglich für den Vor- und Grundschulbereich gab es
eine spezielle fachlich-didaktsiche Ausbildung an einer höheren Schule. Im
Sekundarbereich gab es bis dahin jedoch nur eine minimale Einführung in die
pädagogische Praxis, die man sich im Wesentlichen durch einen „Sprung ins
kalte Wasser“ der Praxis aneignete, indem man einfach als Lehrer vor die
Klasse gestellt wurde. Dies dürfte ungefähr so auch in etlichen anderen
Ländern der Fall gewesen sein. (Es wäre interessant zu wissen, wie dies in
den angelsächsischen Ländern konkret lief und läuft und ich bin daher jedem
Hinweis dankbar). |
W. Geiger Okt. / Dez. 2004 |
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Aus leider
aktuellem Anlass. |
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Alle
Amokläufer konnten bislang ihre schreckliche Tat ausüben, weil sie leichten Zugang
zu Waffen hatten. Dies ist eine so einfache Wahrheit, dass sie offenbar zu
einfach ist um Politik und Gesellschaft zu entsprechenden
Präventionsmaßnahmen zu veranlassen. Der Vater nimmt seinen Sohn schon
möglichst früh mit auf den Schießstand des örtlichen Schützenvereins,
vielleicht im Alter von 12 Jahren. So wie man in Begleitung auch unter 18
schon Auto fahren darf, so auch abgestuft nach unten schießen bis dahin, dass
Papa dem Sohn auch schon mal das Gewehr rüber gibt, wenn’s noch nicht erlaubt
ist. Zuhause darf der Junge ohnehin virtuell selbst ballern. Counterstrike
& Co. sind mehr als nur die technisch moderne Variante von „Räuber und
Gendarme“, „Cowboy und Indianer“. Virtuelle Spiele sind nicht einfach
imaginäres Handeln, virtuell heißt
soweit wie möglich realitätsgetreu,
bis der Unterschied zwischen Virtualtät und Realität auf eine hauchdünne
Grenze zusammenschrumpft. Entsprechend größer ist der Unterschied zu
früherem Spielen. Die Verbindung zwischen realem und virtuellem Schießen ist
ebenfalls eine Voraussetzung für die bekannten Fälle von Amoklauf –
Schützenvereine und Medienverteidiger mögen da dagegenhalten, was sie wollen,
es ist ein Faktor weil ein Faktum. Aber
dies erklärt nur die Möglichkeit und den Weg zum Amoklauf, es erklärt noch
nicht den Grund dafür. |
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Eine
prägnante psychosoziologische Analyse der Hintergründe und einen
intelligenten Kommentar zu den Medienkommentaren dazu hat der Soziologe
Wilhelm Heitmeyer für die tageszeitung
am 19.3.2009 verfasst. Die gesellschaftlichen Zwänge für die Lebensgestaltung
von Jugendlichen haben sich verstärkt und entsprechend die möglichen
Versagensrisiken, aus vielen und auch ganz unterschiedlichen Gründen. „Die Gestaltbarkeit von Lebenswegen wird größer, aber
der Gestaltungszwang nimmt zu“, schreibt Heitmeyer, doch den richtigen
Weg zu finden fällt offenbar immer schwerer, dabei reduzieren sich die
Möglichkeiten auf wenige Paradigmen: „Um in der
Gesellschaft eine Stellung und Anerkennung zu erreichen […] gibt es für sie
drei Möglichkeiten: über Leistungen in der Schule, über äußerliche
Attraktivität oder über die Demonstration von Stärke. Das gesellschaftliche
Leitbild besagt, dass eine anerkannte Stellung nur zu erreichen ist, wenn man
andere unter "Kontrolle" hat und man sich von anderen
unterscheidet. Wer nicht auffällt, wird nicht wahrgenommen, und wer nicht
wahrgenommen wird, ist ein Nichts.“ |
Vgl. die jüngste Jugendstudie, FAZ vom
17.3.09 |
Nun
soll die Schule „soziales Lernen“ vermitteln und genau zum Gegenteil dieser in
der gesellschaftlichen Umwelt wahrgenommenen und erfahrenen Realität
„erziehen“: Miteinander statt Gegeneinander, Solidarität, Teamwork… Wie soll
das gehen? Die Schule kann diese Aufgabe nicht erfüllen, jedenfalls nicht bei
den Schülern, die mit sich selbst und ihrem Bildungs- und Lebensweg Probleme
haben, da gibt es allenfalls punktuelle Erfolge. Grundsätzlich findet im
Klassenverband kein „soziales Lernen“ sondern immer mehr das Gegenteil davon
statt, d.h. die Schlechteren lernen kaum von den Besseren, es bilden sich
keine Solidaritäten sondern gruppenspezifische Hierarchien – meistens
übrigens konträr zur Leistungshierarchie. Wer Anzeichen zum Alleingänger
zeigt, wird nicht etwa unterstützt, sondern oft genug gemobbt. Mobbing ist eine drastisch zunehmende
Realität in der Schule. Dabei können die Untersuchungen, die dies
nachzuweisen glauben, auch nur an der Oberfläche analysieren, denn das
Problem entzieht sich weitgehend der Beobachtung und Kontrolle, die Schule
ist im Allgemeinen hilflos. Weder hat sie die Möglichkeiten Mobbing
rechtzeitig und präzise zu erkennen, noch könnte sie, wenn das denn gelänge,
adäquat darauf reagieren. Im Zuge der pädagogischen Revolution seit 1968 hat
man die Schule „entstraft“ und alle disziplinarischen Maßnahmen, die auch nur
von fern an Gewalt und Zwang aus früheren Zeiten erinnerten, verbannt, bis
hin zum Begriff „Strafe“ selbst, den es gar nicht mehr gibt. Doch was ist an
deren Stelle getreten? Sog. „pädagogische Maßnahmen“ erscheinen oft genug so
lächerlich wie sie es auch sind, gegen „Ordnungsmaßnahmen“ können Eltern,
denen ein Schuldbewusstsein für ihre Kinder ebenso fehlt wie diesen selbst,
oft genug erfolgreich mit Beschwerden und Klagen vorgehen. Doch wo es keine
„Strafe“ gibt, gibt es auch keine „Straftat“, der Siegeszug der Mobber wie
auch die Verzweiflung der Mobbingopfer verdankt sich der faktischen
Straflosigkeit der Tat. Nicht aus jedem Mobbingopfer wird ein Amokläufer,
Gott sei Dank, aber wird die Analyse der Amokläufe und ihrer Gründe soweit
reichen um auf diese ebenso viel weiter wie tiefer gehende
Problemkonstellation zu stoßen? |
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W. Geiger, 21.3.2009 |
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